Der Realitätsschock durch Putins brutalen Angriff auf die
Ukraine sitzt gerade in Deutschland tief. Über Parteigrenzen und tiefe
politische Gräben hinweg gab sich wohl eine Mehrheit der Deutschen jahrelang der
naiven Illusion hin, von der russischen Regierung gehe keine Gefahr aus.
Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hat aber eine
politische Vorgeschichte, die in erster Linie in Berlin beginnt. Die Liste der politisch
Verantwortlichen ist lang, wird aber sicher angeführt von Gerhard Schröder und
Angela Merkel, die eine über 20 Jahre währende Politik der Destabilisierung
Deutschlands zu verantworten haben. Mit der Demontage unserer Verteidigungsfähigkeit,
dem Ausstieg aus Schlüsseltechnologien und der damit verbundenen gezielten
Schwächung unserer industriellen Basis, vor allem einer sicheren Energieversorgung
haben Schröder und Merkel in Mittel- und Osteuropa ein geopolitisches
Machtvakuum entstehen lassen, das Wladimir Putin nun gnadenlos ausgenutzt hat,
um eine umfassende Revision der postsowjetischen Friedensordnung zu erreichen.
In erschreckender Weise fanden sich leider aber auch deutsche
Apologeten für Putins neo-sowjetische Expansionspolitik gerade in den
alternativen Medien und auch unter Libertären. Im Mittelpunkt stand die
realitätsferne These von der angeblichen Einkreisung Russlands durch die NATO.
Eines von mehreren propagandistischen Kniffen der russischen Regierung, die
ganz an nahezu wortgleiche sowjetische Muster erinnern und darüber
hinwegtäuschen sollen, dass die NATO-Osterweiterung allein dem freien Willen
demokratischer Nationen entsprach, deren kollektive Gedächtnisse noch allesamt
von der sowjetischen Expansions- und Unterdrückungspolitik vor 1989 geprägt
waren. Merkwürdigerweise ignorieren gerade diejenigen, die das
Selbstbestimmungsrecht der mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung der Krim
oder des ukrainischen Donez-Beckens besonders betonen, dasselbe Recht wenn es
um die Freiheit der zahlreichen Kolonialvölker Russlands oder der ehemaligen
Völker der Sowjetunion geht. Litauer, Letten, Esten, Tschetschenen oder
Georgier wissen aus eigener leidvoller Erfahrung, dass das Bild von der
friedliebenden Sowjetunion oder einer angeblich rein defensiv eingestellten
russischen Geopolitik mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.
Um das wichtigste politische Ziel Putins zu erkennen, musste
man sich nicht erst mit der sowjetischen Langzeitstrategie auseinandergesetzt zu
haben, die der Buchautor Torsten Mann schon 2007 anhand der übereinstimmenden
Aussagen hochrangiger sowjetischer Überläufer aus dem Geheimdienstapparat
wieder in Erinnerung gerufen hat. Eine aufmerksame Zeitungslektüre hätte ausgereicht,
um zu erkennen, dass Russland und daneben noch einige zentralasiatische
GUS-Staaten sowie Weißrussland, im Gegensatz zu Ländern wie Polen, Tschechien
oder Ungarn nach 1991 nie eine echte Transformation zu Demokratie,
Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit erfahren hatten. Auch Russlands erster
Präsident Boris Jelzin entstammte dem Politbüro der KPdSU, also dem höchsten
Führungsgremium der Sowjetunion. Jelzin unternahm nichts, um die Macht der
kommunistischen Nomenklatura zu brechen, sondern stützte sich stattdessen auf
die Kleptokratie der Oligarchen, also jener ehemals sowjetischen Leiter wichtiger
Staatsbetriebe, die vor allem den Rohstoffreichtum des Landes unter ihre
Kontrolle gebracht hatten und einen freien Wettbewerb um ehemaliges
Staatseigentum gezielt zu verhindern wussten. Daneben verschwanden auch die
einflussreichen Funktionäre der Geheimdienste, allen voran des engeren
Führungszirkels des KGB ebenso wenig wie die zahllosen Angehörigen des
kommunistischen Offizierskorps oder die ehemaligen Parteiführer der KPdSU. Der
politische ukrainische Analyst Boris Chykulay legte 2009 in seiner Studie „Lustration
– oder die Ukraine unter der KGB-Macht“ dar, dass auch die Ukraine unter ihren ersten
Präsidenten Leonid Krawtschuk und Leonid Kutschma viele Jahre dominiert wurde von
früheren Angehörigen der kommunistischen Nomenklatura, die vor allem Militär, Sicherheitsapparat,
Justiz und Politik des Landes kontrollierten.
Wladimir Putin setzte seit Beginn seiner Amtszeit im Jahr
2000 nicht nur auf eine prosowjetische Erinnerungskultur, die die unfassbaren
Verbrechen der 70-jährigen kommunistischen Gewaltherrschaft gezielt
ausblendete, sondern übernahm auch wesentliche Bestandteile der sowjetischen
Sicherheitsdoktrin. In seiner berühmten Rede aus dem Jahr 2005 bezeichnete er
den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20.
Jahrhunderts“ und übernahm die eurasische Geostrategie seines Beraters
Alexander Dugin, der in den 90er Jahren die Nationalbolschewistische Partei
Russlands mitbegründet hatte und 2014 öffentlich forderte: „Wir müssen Europa
erobern, eingliedern und anschließen.“ In seinem 1997 erschienenen Buch
„Grundlagen der Geopolitik“ erteilte Dugin einer souveränen Ukraine eine klare
Absage. Diese Sichtweise ist deckungsgleich mit der Ukraine-Politik Moskaus.
Solange die Ukraine durch eine Moskautreue altsowjetische Nomenklatura
kontrolliert werden konnte, fühlte sich der Kreml nicht bedroht. Das änderte
sich mit dem Aufkommen der ukrainischen Demokratiebewegung 2004. Wegen der engen
persönlichen und wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Russland und der
Ukraine fürchtete das neo-kommunistische Putin-Regime offenbar die Gefahr der
Ansteckung: Prowestliche Proteste und durchsetzungsstarke Demokratiebewegungen
nicht nur in Kiew, sondern bald auch in Moskau?
Der Machtanspruch der altsowjetischen Nomenklatura wird im
Innern immer wieder durch aufsehenerregende Gewalttaten gegen Oppositionelle
verteidigt. Eines der ersten prominenten Opfer war die Journalistin und Buchautorin
Anna Politkovskaja, die 2006 just am Tag von Putins Geburtstag in ihrem
Moskauer Wohngebäude ermordet aufgefunden wurde. In ihrem auch in Deutschland
erschienen Buch „In Putins Russland“ legt sie die undemokratischen
Sowjet-Methoden der russischen Regierung schonungslos offen. Dafür bezahlte sie
mit ihrem Leben. Anna Politkovskaja brandmarkte auch den Zweiten
Tschetschenien-Krieg, den Moskau vom Zaun brach und erinnerte an altbekannte
Muster kolonialer Gewaltherrschaft: Um die Kontrolle über möglichst viele Gebiete
der ehemaligen Sowjetunion wieder zu erlangen, bedient sich Putin der alten,
kolonialen Teile- und Herrsche-Taktik, mit der auch bereits im zaristischen
Russland und der Sowjetunion gezielt ethnische Konflikte an der Peripherie
Russlands, auch in der Ukraine geschürt wurden, um einen Vorwand für das
militärische Eingreifen der russischen „Ordnungsmacht“ zu schaffen.
Die andere, schon aus Sowjetzeiten bekannte Taktik, ist die
Behauptung, Russlands Sicherheit werde vornehmlich von westlichen Staaten
bedroht. Für diese frei erfundene Bedrohung griff schon die Sowjetpropaganda
auf die Geschichtslegende zurück, der Zweite Weltkrieg habe mit dem Überfall
Hitlers auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begonnen. Schon der frühere
CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß konterte diese Propagandaversion, die der
damalige Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnew bei seinem
Deutschlandbesuch 1978 in Bonn konfrontativ im Gespräch mit Strauß zum Besten
gab mit dem Hinweis, dass der Zweite Weltkrieg in Wahrheit am 23. August 1939
mit der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes begonnen habe, dem nicht nur
der den Krieg auslösende deutsche Angriff auf Polen, sondern auch die
sowjetischen Überfälle auf Ostpolen, die drei baltischen Staaten und Finnland
gefolgt sei. Strauß wörtlich zu Breschnew: „Ich bin der Sohn meines Vaters, Sie
sind der Amtsnachfolger Stalins!“
Zur Rechtfertigung des aktuellen Angriffskriegs gegen die
Ukraine musste auch die aus Zeiten des Kalten Krieges bekannte sowjetische
Legende vom Übergewicht der westlichen Rüstung herhalten. Keine „östliche“
Täuschung war dabei zu plump um gerade den naiven deutschen Politikern Glauben
zu machen, Moskaus Nuklearaufrüstung sei defensiv oder finde gar nicht statt.
In Wahrheit hatte Putin schon vor etwa 10 Jahren den INF-Vertrag von 1987
gebrochen und - ebenso wie die Sowjetunion in den 70er Jahren - mit der
Aufstellung neuer nuklearer Mittelstreckenraketen vom Typ SSC-8 begonnen. Die
NATO-Staaten sind gegen dieses Waffensystem heute völlig schutzlos, das
deswegen so gefährlich ist, weil es sich um hochbewegliche, kaum aufzuspürende
und damit zweitschlagsfähige Marschflugkörper mit einer Reichweite von
mindestens 2.600 Kilometer handelt. Aufgestellt im heutigen russischen
Ostpreußen liegen Großstädte wie Paris, London, Berlin oder Mailand leicht in
der Reichweite dieser Massenvernichtungswaffen, mit deren Einsatz Putin heute
glaubhaft droht und damit auch jegliches militärische Eingreifen der NATO in
den Ukraine-Krieg ausschließen kann.
US-Präsident Trump hatte diese gefährliche Bedrohung erkannt,
die eins zu eins der aggressiven Rüstungs- und Expansionspolitik der
Sowjetunion vor etwa 40 Jahren entsprach, und den INF-Vertrag Anfang 2019 gekündigt.
Prompt fiel ihm Angela Merkel auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar
2019 in den Rücken, als sie der notwendigen Nachrüstung durch die NATO eine
kategorische Absage erteilte. Das Ergebnis ist nun, dass anders als in den 80er
Jahren, das freie Europa der atomaren Bedrohung Moskaus weitestgehend schutzlos
ausgeliefert ist.
Zurück ins Jahr 1978, als Strauß zum Abschluss seines
konfliktgeladenen Zusammentreffens mit Parteichef Breschnew nicht nur
Versöhnliches, sondern bewundernswerterweise auch Prophetisches anklingen ließ:
„Ich bin, Sie wissen es, ein Gegner des Kommunismus, aber ich bin kein Feind
der Russen. Ich bewundere sie, denn sie sind die einzige Großmacht, die trotz
ihrer wirtschaftlichen Probleme eine geschlossene Strategie hat. … Die Russen
haben eine zielorientierte globale Strategie, die Amerikaner haben leider
keine.“
Heute hat die US-Regierung nicht nur keine Strategie, sondern
nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wie sie mit den außenpolitischen Erblasten
ihrer politisch fehlgeleiteten Präsidenten Clinton, Bush jr. und Obama umgehen
soll. Mit ihrer aggressiven Interventionspolitik in Afghanistan, dem Irak oder
dem Nahen Osten hat das westliche Bündnis nicht nur viel Ansehen verspielt,
sondern die wirklichen Bedrohungen für Frieden und Freiheit völlig aus den
Augen verloren. Neben der Unterminierung ehemals freiheitlicher Gesellschaften
durch neomarxistische Ideen, inklusive antiwestlichen Schuldkult, Gender-Gaga
und sektenartigen Klimafanatismus, ist es in Wahrheit das seit vielen Jahren
festgefügte Bündnis zwischen Moskau und Peking, dieser neokommunistische
Ostblock, der Freiheit, Demokratie, Eigentum und westliche Lebensart
existenziell bedroht. Die von diesem Ostblock ausgehende Gefahr ist heute
natürlich viel größer, denn die „wirtschaftlichen Probleme“, die Franz Josef
Strauß dem Osten damals zurecht attestierte, plagen heute vor allem den Westen,
dank Euro-Desaster, keynesianischer Voodoo-Ökonomie und etatistischem
Corona-Wahn.
Dr. Thomas Jahn, 18.03.2022