Samstag, 19. März 2022

Krieg in der Ukraine: Wie konnte es so weit kommen?



Der Realitätsschock durch Putins brutalen Angriff auf die Ukraine sitzt gerade in Deutschland tief. Über Parteigrenzen und tiefe politische Gräben hinweg gab sich wohl eine Mehrheit der Deutschen jahrelang der naiven Illusion hin, von der russischen Regierung gehe keine Gefahr aus.

Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hat aber eine politische Vorgeschichte, die in erster Linie in Berlin beginnt. Die Liste der politisch Verantwortlichen ist lang, wird aber sicher angeführt von Gerhard Schröder und Angela Merkel, die eine über 20 Jahre währende Politik der Destabilisierung Deutschlands zu verantworten haben. Mit der Demontage unserer Verteidigungsfähigkeit, dem Ausstieg aus Schlüsseltechnologien und der damit verbundenen gezielten Schwächung unserer industriellen Basis, vor allem einer sicheren Energieversorgung haben Schröder und Merkel in Mittel- und Osteuropa ein geopolitisches Machtvakuum entstehen lassen, das Wladimir Putin nun gnadenlos ausgenutzt hat, um eine umfassende Revision der postsowjetischen Friedensordnung zu erreichen.

In erschreckender Weise fanden sich leider aber auch deutsche Apologeten für Putins neo-sowjetische Expansionspolitik gerade in den alternativen Medien und auch unter Libertären. Im Mittelpunkt stand die realitätsferne These von der angeblichen Einkreisung Russlands durch die NATO. Eines von mehreren propagandistischen Kniffen der russischen Regierung, die ganz an nahezu wortgleiche sowjetische Muster erinnern und darüber hinwegtäuschen sollen, dass die NATO-Osterweiterung allein dem freien Willen demokratischer Nationen entsprach, deren kollektive Gedächtnisse noch allesamt von der sowjetischen Expansions- und Unterdrückungspolitik vor 1989 geprägt waren. Merkwürdigerweise ignorieren gerade diejenigen, die das Selbstbestimmungsrecht der mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung der Krim oder des ukrainischen Donez-Beckens besonders betonen, dasselbe Recht wenn es um die Freiheit der zahlreichen Kolonialvölker Russlands oder der ehemaligen Völker der Sowjetunion geht. Litauer, Letten, Esten, Tschetschenen oder Georgier wissen aus eigener leidvoller Erfahrung, dass das Bild von der friedliebenden Sowjetunion oder einer angeblich rein defensiv eingestellten russischen Geopolitik mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.      

Um das wichtigste politische Ziel Putins zu erkennen, musste man sich nicht erst mit der sowjetischen Langzeitstrategie auseinandergesetzt zu haben, die der Buchautor Torsten Mann schon 2007 anhand der übereinstimmenden Aussagen hochrangiger sowjetischer Überläufer aus dem Geheimdienstapparat wieder in Erinnerung gerufen hat. Eine aufmerksame Zeitungslektüre hätte ausgereicht, um zu erkennen, dass Russland und daneben noch einige zentralasiatische GUS-Staaten sowie Weißrussland, im Gegensatz zu Ländern wie Polen, Tschechien oder Ungarn nach 1991 nie eine echte Transformation zu Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit erfahren hatten. Auch Russlands erster Präsident Boris Jelzin entstammte dem Politbüro der KPdSU, also dem höchsten Führungsgremium der Sowjetunion. Jelzin unternahm nichts, um die Macht der kommunistischen Nomenklatura zu brechen, sondern stützte sich stattdessen auf die Kleptokratie der Oligarchen, also jener ehemals sowjetischen Leiter wichtiger Staatsbetriebe, die vor allem den Rohstoffreichtum des Landes unter ihre Kontrolle gebracht hatten und einen freien Wettbewerb um ehemaliges Staatseigentum gezielt zu verhindern wussten. Daneben verschwanden auch die einflussreichen Funktionäre der Geheimdienste, allen voran des engeren Führungszirkels des KGB ebenso wenig wie die zahllosen Angehörigen des kommunistischen Offizierskorps oder die ehemaligen Parteiführer der KPdSU. Der politische ukrainische Analyst Boris Chykulay legte 2009 in seiner Studie „Lustration – oder die Ukraine unter der KGB-Macht“ dar, dass auch die Ukraine unter ihren ersten Präsidenten Leonid Krawtschuk und Leonid Kutschma viele Jahre dominiert wurde von früheren Angehörigen der kommunistischen Nomenklatura, die vor allem Militär, Sicherheitsapparat, Justiz und Politik des Landes kontrollierten.

Wladimir Putin setzte seit Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2000 nicht nur auf eine prosowjetische Erinnerungskultur, die die unfassbaren Verbrechen der 70-jährigen kommunistischen Gewaltherrschaft gezielt ausblendete, sondern übernahm auch wesentliche Bestandteile der sowjetischen Sicherheitsdoktrin. In seiner berühmten Rede aus dem Jahr 2005 bezeichnete er den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ und übernahm die eurasische Geostrategie seines Beraters Alexander Dugin, der in den 90er Jahren die Nationalbolschewistische Partei Russlands mitbegründet hatte und 2014 öffentlich forderte: „Wir müssen Europa erobern, eingliedern und anschließen.“ In seinem 1997 erschienenen Buch „Grundlagen der Geopolitik“ erteilte Dugin einer souveränen Ukraine eine klare Absage. Diese Sichtweise ist deckungsgleich mit der Ukraine-Politik Moskaus. Solange die Ukraine durch eine Moskautreue altsowjetische Nomenklatura kontrolliert werden konnte, fühlte sich der Kreml nicht bedroht. Das änderte sich mit dem Aufkommen der ukrainischen Demokratiebewegung 2004. Wegen der engen persönlichen und wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Russland und der Ukraine fürchtete das neo-kommunistische Putin-Regime offenbar die Gefahr der Ansteckung: Prowestliche Proteste und durchsetzungsstarke Demokratiebewegungen nicht nur in Kiew, sondern bald auch in Moskau?     

Der Machtanspruch der altsowjetischen Nomenklatura wird im Innern immer wieder durch aufsehenerregende Gewalttaten gegen Oppositionelle verteidigt. Eines der ersten prominenten Opfer war die Journalistin und Buchautorin Anna Politkovskaja, die 2006 just am Tag von Putins Geburtstag in ihrem Moskauer Wohngebäude ermordet aufgefunden wurde. In ihrem auch in Deutschland erschienen Buch „In Putins Russland“ legt sie die undemokratischen Sowjet-Methoden der russischen Regierung schonungslos offen. Dafür bezahlte sie mit ihrem Leben. Anna Politkovskaja brandmarkte auch den Zweiten Tschetschenien-Krieg, den Moskau vom Zaun brach und erinnerte an altbekannte Muster kolonialer Gewaltherrschaft: Um die Kontrolle über möglichst viele Gebiete der ehemaligen Sowjetunion wieder zu erlangen, bedient sich Putin der alten, kolonialen Teile- und Herrsche-Taktik, mit der auch bereits im zaristischen Russland und der Sowjetunion gezielt ethnische Konflikte an der Peripherie Russlands, auch in der Ukraine geschürt wurden, um einen Vorwand für das militärische Eingreifen der russischen „Ordnungsmacht“ zu schaffen.

Die andere, schon aus Sowjetzeiten bekannte Taktik, ist die Behauptung, Russlands Sicherheit werde vornehmlich von westlichen Staaten bedroht. Für diese frei erfundene Bedrohung griff schon die Sowjetpropaganda auf die Geschichtslegende zurück, der Zweite Weltkrieg habe mit dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begonnen. Schon der frühere CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß konterte diese Propagandaversion, die der damalige Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnew bei seinem Deutschlandbesuch 1978 in Bonn konfrontativ im Gespräch mit Strauß zum Besten gab mit dem Hinweis, dass der Zweite Weltkrieg in Wahrheit am 23. August 1939 mit der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes begonnen habe, dem nicht nur der den Krieg auslösende deutsche Angriff auf Polen, sondern auch die sowjetischen Überfälle auf Ostpolen, die drei baltischen Staaten und Finnland gefolgt sei. Strauß wörtlich zu Breschnew: „Ich bin der Sohn meines Vaters, Sie sind der Amtsnachfolger Stalins!“

Zur Rechtfertigung des aktuellen Angriffskriegs gegen die Ukraine musste auch die aus Zeiten des Kalten Krieges bekannte sowjetische Legende vom Übergewicht der westlichen Rüstung herhalten. Keine „östliche“ Täuschung war dabei zu plump um gerade den naiven deutschen Politikern Glauben zu machen, Moskaus Nuklearaufrüstung sei defensiv oder finde gar nicht statt. In Wahrheit hatte Putin schon vor etwa 10 Jahren den INF-Vertrag von 1987 gebrochen und - ebenso wie die Sowjetunion in den 70er Jahren - mit der Aufstellung neuer nuklearer Mittelstreckenraketen vom Typ SSC-8 begonnen. Die NATO-Staaten sind gegen dieses Waffensystem heute völlig schutzlos, das deswegen so gefährlich ist, weil es sich um hochbewegliche, kaum aufzuspürende und damit zweitschlagsfähige Marschflugkörper mit einer Reichweite von mindestens 2.600 Kilometer handelt. Aufgestellt im heutigen russischen Ostpreußen liegen Großstädte wie Paris, London, Berlin oder Mailand leicht in der Reichweite dieser Massenvernichtungswaffen, mit deren Einsatz Putin heute glaubhaft droht und damit auch jegliches militärische Eingreifen der NATO in den Ukraine-Krieg ausschließen kann.

US-Präsident Trump hatte diese gefährliche Bedrohung erkannt, die eins zu eins der aggressiven Rüstungs- und Expansionspolitik der Sowjetunion vor etwa 40 Jahren entsprach, und den INF-Vertrag Anfang 2019 gekündigt. Prompt fiel ihm Angela Merkel auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2019 in den Rücken, als sie der notwendigen Nachrüstung durch die NATO eine kategorische Absage erteilte. Das Ergebnis ist nun, dass anders als in den 80er Jahren, das freie Europa der atomaren Bedrohung Moskaus weitestgehend schutzlos ausgeliefert ist.

Zurück ins Jahr 1978, als Strauß zum Abschluss seines konfliktgeladenen Zusammentreffens mit Parteichef Breschnew nicht nur Versöhnliches, sondern bewundernswerterweise auch Prophetisches anklingen ließ: „Ich bin, Sie wissen es, ein Gegner des Kommunismus, aber ich bin kein Feind der Russen. Ich bewundere sie, denn sie sind die einzige Großmacht, die trotz ihrer wirtschaftlichen Probleme eine geschlossene Strategie hat. … Die Russen haben eine zielorientierte globale Strategie, die Amerikaner haben leider keine.“

Heute hat die US-Regierung nicht nur keine Strategie, sondern nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wie sie mit den außenpolitischen Erblasten ihrer politisch fehlgeleiteten Präsidenten Clinton, Bush jr. und Obama umgehen soll. Mit ihrer aggressiven Interventionspolitik in Afghanistan, dem Irak oder dem Nahen Osten hat das westliche Bündnis nicht nur viel Ansehen verspielt, sondern die wirklichen Bedrohungen für Frieden und Freiheit völlig aus den Augen verloren. Neben der Unterminierung ehemals freiheitlicher Gesellschaften durch neomarxistische Ideen, inklusive antiwestlichen Schuldkult, Gender-Gaga und sektenartigen Klimafanatismus, ist es in Wahrheit das seit vielen Jahren festgefügte Bündnis zwischen Moskau und Peking, dieser neokommunistische Ostblock, der Freiheit, Demokratie, Eigentum und westliche Lebensart existenziell bedroht. Die von diesem Ostblock ausgehende Gefahr ist heute natürlich viel größer, denn die „wirtschaftlichen Probleme“, die Franz Josef Strauß dem Osten damals zurecht attestierte, plagen heute vor allem den Westen, dank Euro-Desaster, keynesianischer Voodoo-Ökonomie und etatistischem Corona-Wahn. 

Dr. Thomas Jahn, 18.03.2022


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